Arts martiaux et agressivité

Kampfkunst und Aggression

Für viele Menschen, die sich (noch) nicht mit Kampfkunst bzw. Kampfsport* auseinandergesetzt haben, gehe es darum, Kampftechniken zu lernen. In ihren Köpfen heißt es also: Techniken mit dem Ziel einzuüben, jemanden zu verletzen oder ums Leben zu bringen. Beim einander Schlagen oder Treten sei man der Meinung, dass es sich um typische aggressive Handlungen handelt, die man tunlichst unterlassen sollte. In unserer modernen Gesellschaft wird uns doch seit unserer Kindheit beigebracht, dass Probleme am besten kommunikativ gelöst werden sollten. Kampfkunsttechniken gehören dementsprechend nicht zu den eingesetzten Mitteln, um Probleme beizulegen. Diese irreführende Meinung zum Kampfkunsttraining wird der komplexen Thematik „Entstehen, Abwenden und Anwenden von Gewalt“ nicht gerecht und führt zu dem Schluss, dass alle Trainingsmethoden, die äußerlich nach einem Kampf aussehen, in ihrem menschlichen Wert abgewertet werden und aus pädagogischen Gründen sogar zu meiden seien.

Im Laufe der Geschichte ist es auch nicht selten passiert (philippinische Kampfkünste, Capoeira, Tai Chi, etc.), dass Kampftraining dem Volk aus Angst einer Rebellion gegen das autoritäre Regime verboten wurde. Dies führte allerdings dazu, dass Kampfkunstbewegungen z.B. dem Tanz integriert und/oder insgeheim weiter praktiziert wurden.

Ein Verbot bzw. ein Meiden dieser Bewegungslehren bewirkt also nicht, so zeigt es uns jedenfalls die Geschichte, dass ein Problem (in diesem Fall ein Gewaltproblem) verschwindet. Vielleicht sollte man, anstatt sich aufgrund von pauschalen Meinungen einer Sache komplett zu verschließen, sich dann doch mit derartigen Praktiken beschäftigen, die einem beibringen, dieses Gewaltpotenzial – das in jedem von uns lauert – zu „kanalisieren“.

Warum werden aber Kampfkünste mit Aggression bzw. Aggressivität gleichgesetzt?

Dies kann daher rühren, dass man das visuell Wahrnehmbare (also die Kampfbewegung) mit einer inneren psychischen Verfassung bzw. negativen** Emotion gleichsetzt: Wut, Hass, Frustration oder Angst, …

Die Aggression ist zwar begleitet von einem inneren Zustand, aber die äußere Erscheinung kann durchaus fehlen. Zwei Beispiele zur Veranschaulichung:

  • Der Mensch in unserer Gesellschaft leidet weniger unter körperlichen Verletzungen. Man erkennt mittlerweile, dass viele Menschen von negativen psychischen Zuständen geplagt sind. (In der Tat ereignet sich eine Krise nach der anderen: Corona, Krieg in der Ukraine, Inflation und steigende Preise, etc. Und das verursacht Stress.) Die Aggression findet also durchaus innerlich statt und nicht nur äußerlich. Alle, die jemals unter Depression gelitten haben bzw. leiden, wissen, dass man zumindest sein Bestes tut, die Aggression – die in einem brodelt – nicht nach außen drängen zu lassen. Außerhalb von zu Hause solle es ja bloß keiner erfahren.
  • Der Mensch in seinem Perfektionierungsdrang hat sein aggressives Verhalten so verfeinert, dass er Mitmenschen sogar indirekt verletzen kann, ohne körperlich*** zu werden: Man kann z.B. jemanden beleidigen, diskriminieren bzw. ungerecht handeln, ignorieren, ihm/ihr die Zuneigung entziehen, … In unserem Rechtssystem ist sogar die Rede von unterlassener Hilfeleistung (also die Aggression stattfinden zu lassen), die unter Strafe steht.

Diese obigen Ausführungen sollen natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass körperliche und psychische Verletzungen zeitgleich zugefügt werden können. Beispiele im eigenen Umfeld und in den Zeitungen gibt es leider zu genüge.

Vielmehr möchte ich erläutern, dass diese körperlosen Aggressionen oft der Grund sind für das Entstehen physischer Aggressionen, denn man findet alleine vielleicht keinen Ausweg oder man fühlt sich ausgeliefert.

Kampfkunsttraining baut die eigene Aggressivität und die seiner Mitmenschen ab

Wir können also festhalten, dass nicht jede Kampfhandlung automatisch mit einer Aggression gleichzusetzen ist. Diese Idee ist sogar in unserem Rechtssystem (s. Notwehr) zu finden: Man darf unter bestimmten Bedingungen Gewalt anwenden.

Aber nicht nur dort erkennt man an, dass nicht jede Kampfhandlung etwas Aggressives bzw. Verwerfliches ist: Wer jemals einer ernsthaft betriebenen Kampfkunstschule beigetreten ist weiß, dass man bei den Übungen kein aggressives Verhalten pflegt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass man seine Aggressivität abbaut und eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts pflegt und dabei auf das Wohlergehen seiner Trainingspartnerinnen und -partner achtet, sowohl in körperlicher als auch psychischer Hinsicht.

Die Meinung, Kämpfen(lernen) ist gleich Aggression, ist für mich also sehr oberflächlich.

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Autor: Philippe Roussel

Lehrer für WingTsun und Newman Escrima in Köln-Bickendorf und Lüttich-Cointe

Blogartikel inspiriert durch Horst Tiwald

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*Hier sei kurz erwähnt, dass es sehr wohl Unterschiede zwischen Kampfsport und Kampfkunst gibt. Der Einfachheit halber werden sie aber hier synonymisch verwendet.

** Hierbei wird „negativ“ als Gegenpol zu positiv verwenden. Es wird keine Wertung vorgenommen. Es sind nur zwei Seiten eines großen Ganzen.

*** Mit „körperlich“ ist gemeint, dass es auf den ersten Blick erkennbar ist. Man weiß aber mittlerweile, dass Diskriminierung oder Rassismus (um nur zwei Beispiele zu nennen) sich auf physische und psychische Gesundheit auswirken.

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