In der Reihe Philosophien im WingTsun schauen wir uns heute den Chan-Buddhismus (jap. Zen-Buddhismus) an, der starken Einfluss auf die chinesischen Kampfkünste und so auch aufs WingTsun genommen hat. Der Chan-Buddhismus ist ein Lebensweg, der in China durch Berührungspunkte des aus Indien kommenden Buddhismus und den bereits in China existierenden Taoismus und Konfuzianismus entstand.
Sein Ziel: die geistig-psychische Entwicklung des Menschen.

Die Gründung des Chan-Buddhismus erfolgte 520 n. Chr. durch den aus Indien kommenden Boddhidharma (chinesisch „Ta Mo“). Er hatte sich in der nordchinesischen Provinz Henan im bis dahin taoistischen Shaolin-Kloster niedergelassen, um dort seine Lehren weiterzugeben. Damals wurden in dem Kloster hauptsächlich buddhistische Sutren – kleine Texte, die das Lernen vereinfachen sollen – übersetzt und rezitiert.

Boddhidharma verwarf die unkritische „Buchstabengelehrtheit“, d.h. das starre Festhalten am geschriebenen Wort. Er fand, damit könne der menschliche Geist nicht frei werden für die Erleuchtung, wodurch der Mensch sein eigenes Leben wirklich sehe. Dies geschehe seiner Meinung nach nur dann, wenn der Mensch die jeweilige Erfahrung tatsächlich persönlich mache. Es gab verschiedene Schulen und Ansichten, wie man Erleuchtung erreiche. In der sogenannten Nordschule wurde gelehrt, es geschehe durch einen allmählichen Prozess durch das beständige Üben der Meditation. In der Südschule dagegen, die sich durchsetzte, sollte es durch einen plötzlichen Moment geschehen, der sich irgendwann einstellte.

Meditation und Achtsamkeit

Als Mittel zur Erleuchtung dient im Chan/Zen langes Meditieren im Sitzen, das Zazen. Grundidee ist, auf nichts zu reagieren, das während des Sitzens aufkommt: keinem Gedanken nachzuhängen, keinem körperlichen Impuls (Jucken, Schmerz) zu folgen. Nur beobachten, ganz im „Da-sein“ sein. So kann man die Automatismen, d.h. die Dinge in unserem Alltag, die nicht vom Bewusstsein oder Willen beeinflusst werden, erkennen und ihren Einfluss beseitigen. Ziel ist es, an einen Punkt zu gelangen, an dem innere Vorstellungen versiegen und man Klarheit und Leere verspürt. So erfährt man die Wirklichkeit und Einheit allen Seins.

Das Training im Chan führt den Schüler mittels Achtsamkeit und Bewusstheit durch Infragestellen der Dinge zur Erkenntnis ihrer Natur – ihrer „So-heit“. Es führt bei einem selbst und anderen Menschen zum „So-sein“ und damit zu Verständnis, Mitgefühl und Liebe. Dieser notwendige Sprung lässt sich intellektuell nicht erreichen, aber durch verschiedene Übungen: in manchen Schulen durch sogenannte Koans. Koans sind Fragen und Sätze, mit teils widersprüchlichen Aussagen, um darüber nachsinnen und meditieren zu können. Das verstandesmäßige Verstehen wird zugunsten des Wissens und Begreifen „aus dem Bauch heraus“ reduziert.

Das Verständnis, dass alles in stetem Wandel und damit jeder Augenblick einzigartig und wertvoll ist, führt dazu, jeden Augenblick erleben zu wollen: Achtsam im Hier und Jetzt sein. Geistesgegenwärtig erfahren und handeln.

Später auch in Japan wurde Chan (dort Zen genannt) als Instrument verstanden, die Natur zu erkennen. Man lehrte, dass alle Wesen im Alltag zu Lebzeiten zur Erleuchtung gelangen können. Zen wurde ein Teil der Gesellschaft und in vielen anderen Künsten – wie Blumenstecken, Kalligrafie oder der Teezeremonie – zelebriert.

Kampfkunst als Mittel zur Selbstbeobachtung

Boddhidharma soll den Mönchen im Kloster Bewegungsübungen beigebracht haben, die aufs indische Yoga und auf andere Künste zurückgehen. Er hatte sie auf seiner Pilgerreise kennengelernt. Sie dienten zur Körperertüchtigung, als Atemübungen oder als Übungen zum Leiten des Chi (Spülung des Knochenmarks).

Neben dem Sitzen als buddhistischer Praxis wurden bei den Bewegungen vor allem Kampfübungen erlernt – um die Achtsamkeit und Selbstbeobachtung im Hier und Jetzt unter erschwerten Bedingungen aufrechtzuerhalten und sie damit zu stärken. Die Kampfkünste vereinten sich mit den Ideen des Chan-Buddhismus.

Durch die praktizierte Geistesgegenwart wurden die Kampffähigkeiten als Nebenprodukt außerordentlich gefördert, so dass sich in den folgenden Jahren chinesische Krieger und später japanische Samurai der Praxis des Psycho-Trainings bedienten, um sich kämpferisch fit zu halten. Das KungFu entwickelte sich.

Shoshin – die Einstellung eines Anfängers

Das zen-buddhistische Konzept Shoshin – auch Beginners‘ Mind – geht von einem leeren Geist aus. Mit ihm ist man jederzeit bereit. Ihn sollte man sich immer bewahren. Diese innere Haltung ist gegenüber jeder neuen Erfahrung frei von Vorurteilen oder Überzeugungen. Sie ist erfüllt von Offenheit und Neugier.

Diese Einstellung hat der Mensch häufig noch, wenn er etwas Neues lernt. Übrigens bei Kindern wunderbar zu erleben. Doch sobald man denkt, die Tätigkeit gemeistert zu haben, stellen sich Gewohnheit und damit Automatismen ein. Viele Dinge werden normal, uninteressant. Man glaubt zu wissen, wie alles verläuft. Tatsächlich bleibt aber nichts, wie es ist. Doch durch die vorgefertigten Vorstellungen, nimmt man sich die Möglichkeit zu sehen, was tatsächlich geschieht. Man wird dadurch häufig „ent-täuscht“, weil Erwartungen nicht erfüllt werden.

In der Geisteshaltung des Shoshin hat man unendliche Möglichkeiten. Man tut Dinge nicht mehr als richtig oder falsch ab, sondern schaut im Hier und Jetzt hin. Die Bereitschaft für jede notwendige Veränderung bleibt erhalten. Das heißt nicht, dass man in seinem Leben nicht vorplanen kann. Aber es bedeutet, dass, wenn sich die Umstände ändern, man nicht an dem vorgefassten Plan festhält, sondern bereit ist, diesen zu ändern: „Ändere dich mit der Veränderung.“

Das Erkennen der wahren Natur

Das Erkennen der wahren Natur der Dinge gilt es, in unser tägliches Leben zu integrieren. Dies beginnt damit, dass man im Hier und Jetzt bewusst spürt und handelt und somit Automatismen unterbricht. Man leert also erst seine Tasse mit dem alten Tee, bevor man neuen, frischen in sie hineinfüllt.

Das Lernen der Achtsamkeit kann und sollte ein Teil des Alltags werden. In jedem Augenblick bewusst werden:  beispielsweise beim Aufstehen, Essen, Arbeiten. Darin liegt die Herausforderung.

Ein Tipp zum Starten

Entwickle für dich einen Körperscan, in dem du dir bestimmter wirkender Kräfte gewahr werden möchtest. Stelle dir mehrfach am Tag den Wecker, um in dem Moment im Hier und Jetzt die Sinne zu wecken.

Beispiel: Ich überprüfe, ob meine Muskeln meine Schultern festhalten. Dann beobachte ich, wie die Schwerkraft auf die Schultern wirkt und sie dank der Tragfähigkeit meines Brustkorbs auch ohne mein Zutun getragen werden können. Kann ich dieses Gefühl auf meinen ganzen Körper ausweiten?

Irgendwann ist das Weck-Signal nicht mehr notwendig. Handlung und Bewusstsein dürfen eine Einheit werden.

Quelle: www.wingtsunwelt.com

Text: Dominique Brizin
Fotos: mg

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